Rechtliche Besonderheiten des Antwort-Wahl-Verfahrens
Das Antwort-Wahl-Verfahren (auch bekannt als "Multiple Choice") als Prüfungsform erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Zum Erwerb der Leistungsnachweise im vorklinischen Studienabschnitt ist es im Zahnmedizinstudium durchweg Standard. Das Verfahren wird in unterschiedlichen Varianten praktiziert: "Standard" ist die aus den Staatsprüfungen für Mediziner und Pharmazeuten bekannte Variante, bei welcher der Prüfling fünf Antwortmöglichkeiten zur Auswahl erhält, von denen eine einzige, welche die einzig zutreffende ist, angekreuzt werden muss. Es müssen natürlich nicht immer gerade fünf Antwortmöglichkeiten sein.
Wem Multiple Choice als Prüfer zu wenig Herausforderung für die Prüflinge ist, der verlagert sich auf "Multiple Select". Da ist dann nicht vorgegeben, wie viele der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten zutreffend sind, es kann keine Antwortmöglichkeit richtig sein, oder es können alle Antwortmöglichkeiten richtig sein, oder eben irgendetwas dazwischen. Außerdem kann noch bei der Punktevergabe differenziert werden. Es können entweder nur die zutreffenden Antworten mit einem Punkt bewertet werden, oder es kann auch Punktabzüge geben für falsch gesetzte oder fehlerhaft nicht gesetzte Kreuze. Kurzum, der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt.
Multiple Choice hat klare Vor-, aber auch klare Nachteile, aus denen heraus sich besondere rechtliche Anforderungen ergeben. Greifbarster Vorzug ist die Wirtschaftlichkeit. Die Korrektur einer herkömmlichen schriftlichen Prüfung bindet erhebliche personelle Ressourcen. Die Korrektur von Multiple Choice-Arbeiten hingegen bereitet keine Schwierigkeit und kostet kaum Zeit. Das kann unter Zuhilfenahme einer Schablone auch die Lehrstuhlsekretärin machen. Das Antwort-Wahl-Verfahren ist außerdem weitgehend diskriminierungsfrei.
Multiple Choice und Multiple Select - die Hintergründe
Man muss sich klarmachen, dass das Antwort-Wahl-Verfahren eine US-amerikanische Erfindung ist und dass seine Verbreitung ihren Siegeszug in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts angetreten hat, als Antidiskriminierung in den USA ein Thema mit erheblicher gesellschaftspolitischer Relevanz war. Ob ein Student schwarzer oder weißer Hautfarbe ist, kann technisch bei der Korrektur einer Multiple Choice-Prüfung keine Rolle spielen. Das Antwort-Wahl-Verfahren gewährt schließlich dem Prüfling einen gegenüber herkömmlichen Prüfungsformen deutlich verbesserten Rechtsschutz.
Einen "prüfungsspezifischen Beurteilungsspielraum", welcher sich der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entziehen würde, kann es beim Antwort-Wahl-Verfahren strukturell nicht geben, weil schon prüfungsspezifische Beurteilungen nicht stattfinden. Anders als bei anderen Prüfungsformen lässt sich der das allgemeine Leistungsniveau indizierende Schwierigkeitsgrad problemlos feststellen. Den Vorteilen stehen Nachteile gegenüber. Der gewichtigste Nachteil ist das Fehlen jeglicher dialogischer Elemente in der Prüfung. Unklarheiten, die es in Prüfungen gibt und immer geben wird, kann so nicht entgegen gewirkt werden.
Eindeutige Fragen, Antworten ohne Spielraum - nicht immer ein Vorteil
Niemand ist fehlerfrei, auch Prüfer nicht. Manchmal gibt es auf eine Frage eben mehr Antwortmöglichkeiten als gedacht, und manchmal ist die vorgestellte Antwort auch gar nicht die richtige. Wenn die Frage als "offene" Frage gestellt wird, wenn also die Möglichkeit vorgegebener Antwortmöglichkeiten nicht begrenzt wird, ist das kein Problem. Der Prüfling kann dann eben die Frage so beantworten, wie sie tatsächlich zu beantworten ist, auch wenn dies vom Erwartungshorizont des Prüfers abweicht. Auch wenn die Fragestellung, was gelegentlich vorkommt, überhaupt keine vernünftige Antwort erlaubt, hat im Prüfungsgespräch der Prüfling die Möglichkeit, den Prüfer um Präzisierung der Fragestellung zu bitten. Und jedenfalls steht am Ende der Prüfung noch der Bewertungsvorgang, welcher es dem Prüfer ermöglicht, auch die Qualität seiner Fragen in die Bewertung mit einfließen zu lassen.
Diesen Bewertungsvorgang gibt es im Antwort-Wahl-Verfahren nicht. Aufgrund dieser Unzulänglichkeit fordert die Rechtsprechung, dass in die Prüfungsordnung selbst Mechanismen eingebaut werden, um fehlerhafte Prüfungsfragen soweit wie möglich auszuschließen. Wie dies im Einzelnen aussehen muss, ist nicht zwingend vorgegeben.
Noch wichtiger ist ein anderer Gesichtspunkt: Im Rahmen des Antwort-Wahl-Verfahrens entfällt die Relativität des Bewertungsmaßstabes. Die "Gesamtleistung" aller Prüflinge spielt bei der Bewertung eine nicht unerhebliche Rolle, weil sie Rückschlüsse auf den Schwierigkeitsgrad der Prüfung erlaubt. Der Schwierigkeitsgrad der Prüfung wiederum ist ein zentraler Punkt bei der Bemessung der einzelnen Prüfungsnote. Normalerweise ist der Bewertungsvorgang der eigentlichen Prüfung nachgelagert, sodass die Bewertung in Kenntnis des Bewertungsmaßstabes (nämlich in Kenntnis der Gesamt-Prüfungsleistung) erfolgen kann. Beim Antwort-Wahl-Verfahren ist dies nicht der Fall; die "Bewertung" als reflexiver Vorgang findet gleichsam schon im Vorfeld der Prüfung statt, nämlich bei der Erstellung der Prüfungsaufgaben.
Nach dem "Katastrophen-Physikum" - Einführung einer relativen Bestehensgrenze
Dies sind nicht nur interessante theoretische Gedankenspiele, sondern höchst praktische Fragen von großer Bedeutung. Greifbar gezeigt hat sich dies in der Vergangenheit an den im Antwort-Wahl-Verfahren durchgeführten Staatsprüfungen für Mediziner und für Apotheker: Bis zum Jahre 1989 galt in den Prüfungsordnungen lediglich eine "absolute Bestehensgrenze" von 60% der Aufgaben. Dies führte zu erheblichen und nicht vorhergesehenen Schwankungen in den Prüfungsergebnissen. In einer Prüfungskampagne, welche in der Literatur als sogenanntes "Katastrophen-Physikum" Verewigung gefunden hat, fielen statt der ansonsten üblichen 20-25 Prozent plötzlich 56 Prozent der Prüflinge durch. Genau diese Sache ist dann auch zum Bundesverfassungsgericht gelangt, und unter dem Gesichtspunkt, dass eine relative Bestehensgrenze besser geeignet ist, den relativen Bewertungsanforderungen des Prüfungsverfahrens gerecht zu werden, wurde die Notwendigkeit der Einführung einer relativen Bestehensgrenze in das Antwort-Wahl-Verfahren statuiert.
Diese Rechtsprechung hat dann das OVG Bautzen für andere als (human-) medizinische und pharmazeutische Staatsprüfungen nachvollzogen (OVG Bautzen, 10.10.2002 4 BS 328/02). Heute hat sich die Auffassung weitgehend durchgesetzt, dass Prüfungen im Antwort-Wahl-Verfahren rechtswidrig sind, wenn nicht die Prüfungsordnung eine relative Bestehensgrenze vorsieht. Und da es sich bei den zahnmedizinischen Prüfungen aus dem vorklinischen Studienabschnitt auch nicht um Staatsprüfungen, sondern um Hochschulprüfungen handelt, gilt hier nicht die Approbationsordnung für Zahnärzte.
Die Universität muss sich also eine eigene Prüfungsordnung speziell für diese Prüfungen gegeben haben. Häufig ist schon dies nicht der Fall. Hier hilft auch nicht die gelegentlich praktizierte nachträgliche pauschale Anhebung der Bestehensgrenze, wenn "zu viele" Prüflinge durchgefallen sind. Eine solche Maßnahme kann nur als Feststellung verstanden werden, dass die Prüfung im Ganzen nicht den Anforderungen der Prüfungsordnung entsprochen hat. Diese Rechtswidrigkeit der Prüfung kann für die in der Prüfung (auch nach Absenken der Bestehensgrenze) gescheiterten Kandidaten nicht durch eine pauschale Punkte-Gutschrift, sondern nur durch eine erneute Ablegung der Prüfung beseitigt werden (VGH München, 6.6.1986 - 7 CE 86.00729).
Die Prüfungsform fällt ihrer herkömmlichen Ausprägung (Fragen mit Ankreuzmöglichkeiten) unter die schriftlichen Prüfungen. Es handelt sich bei derartigen Prüfungsaufgaben aber nicht um ,,Klausuren" im technischen Sinne, denn Klausuren bezeichnen Aufgaben, in welchen ein Prüfling schriftlich einen freien Antworttext zu einer schriftlich formulierten Aufgabenstellung zu Papier zu bringen hat. Wenn also das Antwort-Wahl-Verfahren Gegenstand einer Prüfung sein soll, muss dies aus der Prüfungsordnung ausdrücklich hervorgehen. Es genügt nicht, dass in der Prüfungsordnung von "Klausurarbeiten" die Rede ist, welche der Prüfling zu verfassen hat (OVG Bautzen, 10.10.2002 4 BS328/02).
Dr. Christian Birnbaum
www.birnbaum.de