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Zahniportal-Blog

Exzentrische Aufnahmen: Le Grand Thomas

Bild: https://www.improbable.com/2009/08/07/guardian-column-168/

Geschätzte Leser,

vor einiger Zeit widmete ich einen Beitrag dem kauzigen Martin Van Butchell, der zu Werbezwecken seine verstorbene Gattin im Schaufenster ausstellte. Nicht etwa in das eines Beerdigungsinstituts, sondern in das seiner Zahnarzt-Praxis. Dieses Mal möchte ich auf einen ähnlich schrulligen „Zahnarzt“ eingehen, der zwischen 1710-1757 die Münder der Pariser unsicher machte: Le Grand Thomas!

Der Name kommt nicht von ungefähr, denn Thomas kolossale Körpergröße zog selbst auf der belebten Pont-Neuf Brücke, einem karnevalsartigen Sammelsurium diverser Scharlatane, alle Blicke auf ihn. Angeblich aß und trank er für vier und schlief 18 Stunden am Tag. In anderen Worten: er ist mein Held und Vorbild.
Mit diesem Lifestyle erarbeitete er sich "Le Grand Thomas" allerdings noch einen Bonus-Spitznamen: „Le Gros Thomas“ (dt.: der fette Thomas). Wie passend, denn laut Erzählungen rissen diesem Kaventsmann während seiner Behandlungen regelmäßig die Säume oder Knöpfe flogen umher.

Seine brachiale Stärke, sein übermenschliches Erscheinungsbild und seine angeblich „schmerzfreien Zahnextraktionen" machten Thomas zu einer Pariser Legende, über die damals zahlreiche Volkslieder und Theaterstücke verfasst wurden. Seine tiefe Stimme alleine könne Zähne zum Ausfallen bewegen, hieß es! Wenn ein Zahn mal nicht wollte, so wurde der Patient niedergekniet, und mit der Kraft eines Bullen drei mal am Zahn gen Himmel gehoben, bis der Zahn endlich nachgab und der Patient zufrieden runter auf den Boden fiel. Da verwundert einen auch nicht das Credo, welches Thomas Fahne schmückte: dentem sinon maxillam (frei übersetzt: „Der Zahn, und wenn halt nicht, dann der ganze Kiefer“). Er prahlte damit, schneller einen Kiefer rausreißen zu können als seine Wettbewerber einen Zahn. Naja, wann auch immer eine manuelle Kieferextraktion indiziert sein mag ...

Pierre Fauchard, der wahre Vater und somit Alpha-Streber der Schulzahnmedizin, beobachtete dieses Treiben mit Argwohn. Er empfand die Pont-Neuf Brücke als ein „Theater von Blendern“ und erkannte schnell die Tricks, mit denen der dicke Thomas arbeitete:
Zunächst lud dieser einen (bezahlten) Freiwilligen aus dem Publikum mit angeblichen Zahnschmerzen auf die Bühne. Diesem legte er bei der Erstinspektion heimlich einen in Hühnerblut getränkten alten Zahn in den Mund. Nun berührte Thomas nur den „betroffenen“ Zahn mit einer Schwertspitze, packte etwas Pulver drauf, und klingelte ein Glöckchen, und schon konnte der eingeweihte Statist seinen bösen Zahn blutig ausspucken. Die Extraktion schien absolut schmerzlos und es bildeten sich endlose Schlangen echter Patienten. Wenn deren Behandlung nicht ähnlich schmerzfrei wie in der Demonstration war, dann lag die Schuld natürlich beim wehleidigen Patienten. Da bei so mancher Extraktion auch mal ein gesunder Nachbarzahn mit rauskam, wurde übrigens nachvergütet („Der hätte in 15 Jahren eh raus gemusst!“).

Das anwesende Publikum feierte diese Spektakel und verfiel oftmals in wahre Lachorgien – die Welt vor Netflix sah wirklich anders aus ...

Unter’m Strich war Le Grand Thomas also eher eine Kultfigur als ein Zahnmediziner. Das müssen schon seltsame Zeiten gewesene sein, als Schmerzpatienten auf einem Volksfest Schlange stehen mussten, um am Ende von einer testosteron-getränkten Hella von Sinnen den Zahn rausgeprügelt zu bekommen während sie von allen verlacht werden.

Und da haben die Leute heutzutage Angst vor einer Professionellen Zahnreinigung ...

Weise Grüße,
Moritz