Neue Lernwelt durch VR-Technologie
Im vergangenen Semester konnten sich Studierende der Uni Witten/Herdecke im Rahmen des Studium fundamentale mit Virtual Reality beschäftigen. Welches Ziel verfolgte das Seminar?
Für mich war das Seminar ein „Erkundungsseminar“. Zu Beginn haben wir eher allgemeine Fragen gestellt: Was kann VR-Technologie grundsätzlich leisten? Worüber denkt jeder Einzelne nach, wenn er sich mit VR auseinandersetzt? Die meisten Teilnehmenden hatten nämlich noch nie eine VR-Brille auf dem Kopf und waren entsprechend überrascht, was VR eigentlich leisten kann.
Wie wurden die Teilnehmenden an das Thema konkret herangeführt?
Ich lud einen Visual-Artist ein, der in der Lage war, 3D-Umgebungen live mit den Studierenden zu bauen. Hier wurde erst einmal erklärt, was man an technischer Infrastruktur und Software benötigt und welche Möglichkeiten VR allgemein bietet. Gemeinsam haben wir ein Setting zusammengebastelt und erst einmal viel ausprobiert - uns mit der Technik vertraut gemacht. Besonders spannend ist natürlich auch immer die manchmal auch etwas unheimliche Wirkung von VR. Zum Beispiel sind wir von Hochhäusern gesprungen – oder eben auch nicht. (lacht)
Über das freie Experimentieren haben wir dann erarbeitet, wie man das Medium wissenschaftlich-soziologisch und gesellschaftlich anpackt. Im Verlauf des Seminars wurden Fragestellungen zugespitzt und geschaut, was eine gemeinsame Grundfrage des Seminars sein kann. Wir kamen recht schnell dazu, dass wir uns fragten: Was kann dieses neue Medium besser als traditionelle Medien? Daraus entstand dann eine Studie für den medizinischen Bereich.
Was wurde in der Studie genau untersucht?
Es ging um das Erlernen von Anatomiekenntnissen. Wir haben verglichen, wie das Erlangen von Wissen durch analoge Quellen, beispielsweise durch Lehrbücher, im Gegensatz zum Lernen im VR-Bereich funktioniert.
Welche Ergebnisse zeigt die Studie?
Wir stellten fest, dass das Lernen mit VR rein statistisch keine besseren Ergebnisse lieferte als das Lernen mit dem Lehrbuch. Hier muss man aber beachten, dass die Probanden zum ersten Mal in ihrem Leben eine VR-Brille benutzten! Zudem schätzten sie das VR-Medium als sehr geeignet ein. Obwohl das Lehrbuch also die leicht besseren Ergebnisse lieferte, bleibt hinsichtlich der qualitativen Daten unklar, ob das vielleicht vor allem auf die gewohnten Lernpraktiken mit dem Buch zurückzuführen ist.
„Studierende berichten, dass ihre subjektive Lernerfahrung mit Virtual Reality viel konzentrierter und intensiver ist“
Viele der teilnehmenden Studierenden berichten, dass ihre subjektive Lernerfahrung mit Virtual Reality viel konzentrierter und intensiver ist. Diese widersprüchlichen Ergebnisse zeigen, dass weitere Untersuchungen zum Einfluss von VR auf die Konzentrationsfähigkeit erforderlich sind, insbesondere unter Berücksichtigung möglicher Habitualisierungsprozesse.
Im Hinblick darauf, ob die dreidimensionale Darstellung in VR zu verbesserten Lernergebnissen der räumlichen Dimension der menschlichen Anatomie führt, kommen wir zu ebenso interessanten Ergebnissen. Die Auswertung des qualitativen Teils unserer Studie zeigt in Übereinstimmung mit früheren Untersuchungen, dass ausnahmslos alle Teilnehmenden der Meinung waren, dass VR dem Lehrbuch in Bezug auf die Darstellung der abgefragten Muskelbereiche überlegen sei. Aufgrund der geringen Anzahl von Fällen in unserer Pilotstudie empfehlen wir hier aber weitere Forschung. Außerdem gibt diese Studie erste Hinweise darauf, dass das Lernen mit Medien stark von den individuellen Präferenzen Anwenderinnen und Anwender sowie deren Lerntechniken abhängen kann. Aus diesem Grund könnten insbesondere Personen mit „visuellem Lerntyp" von VR profitieren.
Ist der Einsatz von VR im Bildungsbereich allgemein etwas ganz Neues?
Man muss sich bewusst machen, dass die Geräte, die wir heute nutzen, Geräte der ersten Generation sind. Die Technologie ist noch lange nicht ausgereift: Die aktuellen Geräte sind unhandlich, die Anwenderseite erwartet einen schnellen technologischen Fortschritt. Das führt dazu, dass viele Einrichtungen eher zögerlich auf VR blicken und vor einer Investition zurückschrecken bzw. noch abwarten, wie sich alles entwickelt. Aber auch Gründe wie Unkenntnis und Unverständnis gegenüber der Technologie zählen dazu. Da fehlt auch häufig der Mut. Ausschlaggebend für den Einsatz von VR sind heute vor allem oft die Leute, die einen konkreten Nutzen erkennen und die Kenntnisse haben, die Technologie einzusetzen.
Wird es in Zukunft Seminare zum Thema VR an der UW/H geben?
Natürlich, ich möchte weiterhin VR-Technologien in Seminaren einsetzen, aber aktuell eher an der Schnittstelle zu Robotik, Immersion und Verkörperung. Die Idee für das Wintersemester ist es, eine Installation umzusetzen, die es ermöglicht, sich perspektivisch in die Position eines anderen Menschen oder Roboters hineinzuversetzen.
Wie genau kann man sich das vorstellen?
Die Idee basiert auf einer Arbeit des BeAnotherLab. Hier sitzen zwei Menschen in einem Raum und tragen jeweils eine VR-Brille, auf der eine Kamera installiert ist. Das Bild der eigenen Kamera ist aber in die VR-Brille der anderen Person gespeist – und umgekehrt. Auf diese Weise sehen die Protagonisten die Sichtweise des anderen in der eigenen VR-Brille.
Klingt ziemlich abgedreht, aber verständlich…
(lacht) Ja, ich glaube, das könnte ziemlich weird werden, aber auch sehr interessant, wenn man sich dann sozusagen selbst live in einem realen Raum begegnen kann.
Könnte diese Anwendung zum Beispiel was mit dem Erlernen von Empathie zu tun haben?
Ja, genau! Empathie, Verkörperung, aber auch Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wie verorte ich mich?“ usw….