Umfassende Genstudie zur Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
Die Forschenden vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn kombinierten in ihrer Arbeit verschiedene Datenquellen miteinander. Sie stießen so einerseits auf fünf neue DNA-Regionen, in denen Variationen der DNA-Sequenz mit einem erhöhten Risiko der Fehlbildung einhergehen. Insgesamt sind nun 45 solche Risiko-Regionen bekannt. Für einige davon konnten die Beteiligten zudem zeigen, welche Gene von diesen Veränderungen betroffen sind. „Unsere Ergebnisse liefern neue Einblicke in die Entstehung der Erkrankung, aber auch in die Entwicklung des Gesichts im frühen Embryo insgesamt“, erklärt Dr. Kerstin Ludwig.
Ludwig leitet am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Bonn eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe, die sich mit den genetischen Ursachen der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte beschäftigt. Auf mehr als 90 Prozent wird der durchschnittliche Beitrag der Erbanlagen zu dieser häufigen Fehlbildung geschätzt. „Der genetische Beitrag ist komplex“, sagt Ludwig. „Das heißt, es gibt nicht nur ein Gen, sondern eine ganze Reihe von Erbanlagen, die zu der Fehlbildung beitragen.“
Daten bereits publizierter Genomstudien kombiniert
Der Bauplan jedes einzelnen Menschen ist in seiner DNA gespeichert – einer Art riesigem Lexikon mit rund drei Milliarden Buchstaben. Menschen sind verschieden, und dementsprechend unterscheidet sich auch der Inhalt ihres DNA-Lexikons. Bei Personen mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte sollten sich aber zumindest die Passagen gleichen, die etwas mit der Fehlbildung zu tun haben. Diese Grundannahme macht die Wissenschaft sich zunutze: Indem Forschende die DNA vieler tausend Betroffener an einigen Millionen Stellen vergleichen, können sie Erbgut-Regionen identifizieren, die zu einem höheren Krankheits-Risiko führen.
In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe solcher „genomweiter Assoziations-Studien“ (GWAS) erschienen. „Wir haben nun die Daten bereits publizierter GWAS kombiniert“, erklärt Dr. Julia Welzenbach, die in Ludwigs Arbeitsgruppe als Postdoktorandin die nun veröffentliche Studie geleitet hat. Dadurch ist es möglich, auch solche Veränderungen der DNA zu finden, die das Risiko für die Fehlbildung nur gering erhöhen und die daher in Einzelstudien übersehen werden. „Wir haben auf diese Weise fünf Risikoregionen identifiziert, die vorher unbekannt waren“, sagt Welzenbach.
Zu einem besseren Verständnis der Krankheit trägt das nicht automatisch bei. Denn nur etwa zwei Prozent der DNA enthält tatsächlich genetische Informationen im Sinne einer direkten Bauanleitung für Proteine. Wozu die restlichen 98 Prozent da sind, beginnt die Wissenschaft gerade erst zu verstehen. „Die 45 Risiko-Regionen, die wir heute kennen, liegen alle innerhalb dieser 98 Prozent, die wir auch als nicht-kodierende Bereiche bezeichnen“, erklärt Welzenbach.
Heute weiß man, dass ein Teil der nicht-kodierenden DNA dazu dient, die Aktivität von Genen zu regulieren. Manche dieser DNA-Bereiche sorgen zum Beispiel dafür, dass ein bestimmtes Gen häufiger oder in bestimmten Geweben abgelesen wird. Man nennt solche regulatorischen Regionen daher auch „enhancer“ (enhance = steigern). Andere wirken dagegen als „silencer“ (silence = zum Schweigen bringen) - sie schalten bestimmte Gene ab.
Mutationen betreffen regulatorische DNA-Elemente
In jeder Zelle sind zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt nur bestimmte Gene aktiv. Es gibt also ein zelltyp- und zeitspezifisches Aktivitätsmuster von Erbanlagen, und die silencer und enhancer sind dafür mitverantwortlich. „Man kennt inzwischen einige regulatorische DNA-Sequenzen, die während der frühen Gesichtsentwicklung des Embryos als silencer oder enhancer wirken“, sagt Ludwig. „Wir konnten für manche der genetischen Veränderungen aus den GWAS-Daten zeigen, dass sie diese regulatorischen Sequenzen betreffen, und so auch zeigen, welche Gene dadurch in ihrer Aktivität zu- oder abnehmen.“
Vermutlich ändert jede der 45 heute bekannten Mutationen die Wirkung eines enhancers oder silencers. Sie stören damit das genau austarierte Aktivitätsmuster der Gene, die für die fehlerfreie Entwicklung des Gesichts eine Rolle spielen. Und diese Störung ist es, die in vielen Fällen zu einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte führt.
Beteiligte Institutionen und Förderung:
An der Studie waren neben dem Universitätsklinikum Bonn die Universitäten Manchester, Köln, Pittsburgh, Connecticut sowie die Johns Hopkins Universität in Baltimore, die Emory Universität in Atlanta und die Universität von Kantabrien beteiligt. Gefördert wurde sie aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, LU 1944-3/1).