Unterrichtsbeginn - Wir kommen dann mal später
Abends kommen sie zu spät ins Bett, aber am Morgen klingelt unbarmherzig der Wecker, denn die Schule beginnt um acht und dort müssen sie Leistung bringen, Tag für Tag: Jugendliche heute bekommen permanent zu wenig Schlaf, Nacht für Nacht. Chronischer Schlafmangel ist aber nicht nur unter deutschen Heranwachsenden weit verbreitet, er ist ein globales Phänomen. Und längst ist er nicht mehr nur ein privates und damit individuelles Problem, sondern ein Thema der öffentlichen Gesundheit. Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention beispielsweise spricht mittlerweile von einem „Public Health Concern“. Zu den Folgen des Schlafdefizits gehört nicht nur die schlechtere Konzentrationsfähigkeit, sondern auch ein erhöhtes Unfallrisiko in der Frühe. Außerdem, so zeigen Studien, steigen die Risiken für Depressionen, Adipositas sowie Diabetes und andere Stoffwechselkrankheiten. Kein Wunder, dass allenthalben die Diskussion um einen späteren Unterrichtsbeginn aufkommt.
Doch was wäre damit gewonnen? Kann eine Abkehr vom Acht-Uhr-Dogma tatsächlich den Schlaf und die kognitive Leistungsfähigkeit der Jugendlichen steigern? In Europa gibt es dazu bislang wenige Studien; Münchner Chronobiologen um Eva Winnebeck und Till Roenneberg haben die Frage nun in einem besonderen Feldversuch studieren können – am Gymnasium Alsdorf in der Nähe von Aachen, das nicht nur den Schulbeginn nach hinten verlegte, sondern sogar ein flexibles Modell einführte. Danach können die Schüler der Oberstufe Tag für Tag selbst entscheiden, ob sie schon zur ersten Stunde kommen oder erst zur zweiten. Diese Form der Gleitzeit ist möglich, weil die Schule nach dem sogenannten Dalton-Plan arbeitet, wofür sie im Jahr 2013 im Übrigen mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Einen Teil des Stoffes müssen sich die Schüler nach dieser US-amerikanische Idee in jeweils längeren Projektphasen selbständig erarbeiten. Im Stundenplan sind dafür zehn Stunden pro Woche vorgesehen, die Hälfte davon liegt jetzt auf der Acht-Uhr-Schiene. Kommen die Schüler später, müssen sie den Stoff in den Freistunden oder nach dem regulären Unterrichtsschluss nachholen.
Schlafprotokolle und Aktivitäts-Tracker geben Auskunft
Drei Oberstufen-Jahrgänge stellten die Probanden für die LMU-Forscher vom Institut für Medizinische Psychologie. Drei Wochen vor und sechs Wochen nach der Einführung des Flexi-Modells am Gymnasium Alsdorf begleiteten die Wissenschaftler die Schüler. Sie ließen sie täglich Schlafprotokolle führen, statteten gut die Hälfte von ihnen zudem mit Aktivitäts-Trackern aus. Am Studienende gaben die Jugendlichen Auskunft über ihr Schlafverhalten, ihr Wohlbefinden und ihre Konzentrationsfähigkeit im Unterricht und beim Lernen.
Verblüfft waren die Wissenschaftler allerdings zunächst von der Tatsache, dass die Schüler die neue Freiheit, später zu kommen, gar nicht so exzessiv ausnutzten, berichtet Eva Winnebeck. Im Schnitt ließen sie zweimal pro Woche die erste Stunde ausfallen. An solchen Tagen schliefen sie dann gut eine Stunde länger; das galt unabhängig von Geschlecht, Jahrgangsstufe, Chronotyp und Häufigkeit des späteren Schulbeginns – so gut wie alle Schüler profitierten. Gegenüber der alten Ära des starren Schulbeginns verlängerten sich die Schlafzeiten aber insgesamt nur unwesentlich. Trotzdem waren die Schüler hochzufrieden mit dem neuen Modell. Durch die Bank gaben sie an, besser zu schlafen und auch in der Schule konzentrierter zu sein. „Vielleicht reicht schon die Möglichkeit, frei entscheiden zu können und nicht dem Diktat des Weckers ausgeliefert zu sein, um viele Knoten zu lösen“, sagt Winnebeck. „Flexible Systeme stellen eine tragfähige Alternative dar, wenn man den Schlaf von Jugendlichen verbessern will“, schreiben die Autoren in ihrer Arbeit im Fachmagazin Sleep. Wichtig aber sei es, die Schüler dazu zu ermuntern, die Spätoption bei Bedarf auch wirklich zu nutzen.